Das Verschwinden von Daniel Küblböck stimmt mich traurig und gibt mir zu denken.
Damals war die erste Staffel DSDS etwas Besonderes. Und als 16-Jährige hinterfragt man noch nicht viel, und so habe auch ich die Sendung wie halb Deutschland verfolgt. Dieser junge, schrille Typ hat sicher polarisiert.
Aber er hatte uns allen eins voraus. Er war authentisch.
Es ist 2018 und die Hashtags bestimmen die Themen des Tages. Von Authentizität ist nicht mehr viel zu sehen.
Gerade noch wird ein deutsches Topmodel mit dem Hashtag #backtoreality gefeiert. Auf Instagram zeigt sie sich jetzt immer wieder ohne Make-up.
Respekt, mutig!
Dennoch sitzt sie – natürlich – im perfekten Licht. Pickel? Fältchen? Augenringe? Mal ´ne Delle?
Von wirklicher Realität keine Spur.
Nichts gegen sie. Sie kann auch nichts dafür, dass sie mit außergewöhnlicher Schönheit gesegnet wurde.
Aber dass fehlendes Make-up schon Grund zum Feiern ist, zeigt, wie weit wir vom Echten abgedriftet sind.
Unsere Blogger präsentieren sich in Kleidung von den weltweit angesagtesten Designern. Klar, sie sind die neuen Werbetafeln.
Outfits, die sich der Normalbürger niemals wird leisten können.
Und überhaupt, wo ist da die Individualität, der Spiegel der eigenen Persönlichkeit? All das, was das Blogger-Business überhaupt erschaffen hat?
Leute werden hochgejubelt und über Nacht zu Stars. Einen Wimpernschlag später werden sie brutal fallengelassen.
Wir vergessen den Menschen hinter der „Person des öffentlichen Lebens“.
Oder, es ist uns egal.
Unsere deutsche Nationalmannschaft landet in eigens gemieteten Privatjets. Das große Ziel nicht etwa die Titelverteidigung. Die eigene Vermarktung steht im Vordergrund, so scheint es für mich Laien.
Weit weg. Nicht mehr greifbar.
Im Fernsehen laufen „Adam und Eva“, „Love Island“ und die hundertste Staffel „Der Bachelor“.
Softpornos zur Primetime.
Ja, hatten sie jetzt eigentlich Sex? Fragen über Fragen.
Dazu sind Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Die Lauten und die Leisen.
Eine Partei, die sich Angst und Unsicherheit der Menschen zunutze macht. Das ist irgendwie archaisch. Funktioniert aber offensichtlich immer noch.
Ich war immer stolz darauf als Tochter einer türkischen Migrantin in diesem wundervollen, offenen Land aufzuwachsen.
Meine Großeltern, hart arbeitende Gastarbeiter, die sofort Deutsch gelernt haben. Meine Mutter, eine Frau, die sich aus Normen und Zwängen rausgekämpft hat, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Wir hatten sicher nie das einfachste Verhältnis. Aber wenn sie mir eins im Leben mitgegeben hat, dann, dass anders sein nicht bedeutet, am Ende alleine dazustehen.
Anders sein galt in unserer Familie immer als besonders – besonders gut.
Ich bin ihr sehr dankbar dafür.
Der Instagram-Knigge verbietet uns, unsere Fehler offenzulegen. Unsere wunderschönen Fehler. Wir alle eifern den Schönen und Erfolgreichen nach.
Aber mal ehrlich, ist dieses Nacheifern nicht unfassbar anstrengend?
Und ans Ziel gelangen wir sowieso nicht. Wie denn auch? Das meiste ist doch eh Facetune und Filter.
Daniel Küblböck hatte offenbar schwer damit zu kämpfen, in unserer Gesellschaft der sein zu können, der er sein wollte, der er wirklich war.
Wir stecken Menschen in Schubladen, zeigen mit dem Finger auf sie und lachen laut.
Der Flüchtling. Der Schwule. Der Hartzer.
Hater so weit das Auge reicht.
Und wahrscheinlich steckt auch hinter jedem Hater ein verunsicherter Mensch, der nie sein konnte, was er vielleicht sein wollte. Jemand, der nie ernst genommen wurde und sich nach Aufmerksamkeit sehnt.
Irgendwie dachte ich, hätten wir das alles hinter uns. Wir liberalen, modernen Deutschen des 21. Jahrhunderts.
Aber was weiß ich schon, bin ja nur die Spielerfrau.
Wir steuern derzeit in eine Richtung, die verdammt besorgniserregend ist.
Noch können wir bremsen und unseren Kindern Werte mitgeben, die wir alle meinen zu kennen aber nach denen keiner mehr lebt.
Fragen wie: Was zählt im Leben? Worum geht es? Was ist, das am Ende bleibt? – Klingt nach Floskeln?
Und doch sind die Antworten so bedeutungsvoll und wegweisend für eine Gesellschaft, in der man sich gegenseitig respektiert. Eine Gesellschaft, die Anderssein und Vielfalt als Bereicherung sieht und ihr nicht mit Angst, sondern Neugier entgegentritt.
Foto: Einmal mehr der großartige Dennis Orel
10 Kommentare
Marlit Veiel-Fritzenschaft
16. September 2018 um 11:06Wir sind beide bei dir!
Gruß
Veit und Marlit
Lilli Hollunder
17. September 2018 um 11:13Danke, ihr beiden!! Das freut mich!! 🙂
Julia
16. September 2018 um 15:15Liebe Lilli,
Danke, dass du deine Gedanken so offen teilst. Mich begeistert, wie leichtfüßig du dich in deinem Blog zwischen Ernst und Humor bewegst. Dazu noch dein Talent, dich selbst nicht zu ernst zu nehmen – das ist inspirierend und macht mächtig Spaß 🙂
Danke und bitte weiter so!
Julia
Lilli Hollunder
17. September 2018 um 11:14Vielen Dank liebe Julia für deine lieben Worte!! 🙂
Jochen Weicker
16. September 2018 um 23:55Respekt, liebe Lilli, Du hast ein „heißes Eisen“ angepackt und bravourös argumentiert.
Ja, Du bist -auch- eine Spielerfrau, das „nur“ kannst Du aber weglassen, weil Du eine selbstbewußte, selbstbestimmte Frau bist ! Ich glaube auch nicht, dass Deinem Mann das „nur“ gefällt …
Liebe Grüße aus Mainz.
Jochen
Lilli Hollunder
17. September 2018 um 11:12Danke lieber Jochen für das nette Feedback! Liebe Grüße zurück und ebenfalls aus Mainz!!
Annalena Kastner
22. März 2019 um 19:10Liebe Lilli,
vor wenigen Minuten bin ich über deinen Blog gestolpert und schon jetzt – wo ich erst zwei deiner Texte gelesen habe – haben mich deine Worte in den Bann gezogen.
Ich finde es wahnsinnig toll, wie du über ernste Themen unserer Zeit schreibst und deine Ansichten mit uns teilst. Ich hoffe, dass es bald Neues von dir zu lesen gibt!
Liebe Grüße Annalena
Lilli Hollunder
23. April 2019 um 13:45Liebe Annalena, danke für deine Nachricht. Es hat lange gedauert, aber endlich arbeite ich gerade wieder an neuen Texten. Ich schreibe halt nur, wenn ich auch etwas zu sagen habe. Und die letzte Zeit war mein Kopf mit anderen Dingen beschäftigt. So ist das manchmal… 🙂 Ich wünsche dir alles Gute!!!
Chris
24. September 2019 um 21:25Danke Ihnen, sehr sympathisch. Ich wünsche Ihnen, was ich allen sympathischen Menschen wünsche: Kinder.
Lilli Hollunder
26. Juli 2020 um 19:15🙂